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Demografischer Wandel erfordert Mut zur politischen Gestaltung

Im Sommer letzten Jahres stand das Thema Altersarmut im Mittelpunkt der innenpolitischen Debatte. Ausgelöst wurde die Diskussion durch den Gesetzentwurf zur „Zuschussrente“ von Bundesarbeitsministerin Frau von der Leyen. Zunehmende Armut im Alter wegen unterbrochener Erwerbsbiografien, niedrigen Löhnen und abgesenktem durchschnittlichen Rentenniveau von 52 auf 43 Prozent im Jahr 2030 wurde von vielen Frauen und Männern als bedrohlich wahrgenommen.

Die veröffentlichten Zukunftsszenarien von wachsender Altersarmut müssen weiterhin als realistisch engeschätzt werden und sind nicht aus der Welt. Die Bundesregierung konnte sich bis heute nicht auf einen gemeinsamen Vorschlag zur Armutsbekämpfung im Alter verständigen. Auch von dem Modell „Lebensleistungsrente“ blieb nichts übrig als nur der Name ohne konkreten Inhalt. Der 2. Demografiegipfel der Bundesregierung wird viele Fragen des demografischen Wandels debattieren, aber keine strategische Antwort auf die sich abzeichnende zunehmende Altersarmut geben können. Die Regierungskoalition hat kein gemeinsames Handlungskonzept vorzutragen.

Warum muss strategisch etwas gegen die zunehmende Armut unternommen werden? 

Armut wird häufig definiert, wenn jemand weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Diese Armutsschwelle liegt danach bei 952 €/Monat. 15,9 Prozent der Frauen und 12,1 Prozent der Männer mussten mit einem Einkommen unter dieser Armutsschwelle auskommen, 14,1 Prozent der über 64-Jährigen (lt. Statistischem Bundesamt).

Weil der Rentenbeitrag bis 2030 nicht höher als bis auf 22 Prozent des Bruttoeinkommens steigen soll, wird das Rentenniveau von derzeit 52 Prozent auf dann 43 Prozent im Jahr 2030 sinken. Viele Rentner/innen werden nicht allein von ihrer gesetzlichen Rente leben können. Bereits heute beträgt die durchschnittliche Rente der Frauen nur 739 Euro. Die durchschnittliche Rente der Männer beträgt hingegen 998 €, das sind 159 €/Monat Unterschied. Die Rentenlücke zwischen Männern und Frauen betrug laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums 59,6 Prozent (Gender Pension GAP). Der Gender Pension GAP fällt mit 36,7 Prozent im Osten niedriger aus als im Westen mit 63,4 Prozent .

Hintergrund dieser erheblichen Unterschiede sind die unterschiedlichen Erwerbsbiografien zwischen Ost und West. Ursächlich für das geringe Rentenniveau ist für viele westdeutsche Frauen die Unterbrechung der Erwerbstätigkeit für Zeiten der Kindererziehung (Hausfrau/Mutter). Hinzu kommen Phasen der Teilzeitarbeit und/oder von Minijobs.

Wer heute keinen oder nur einen geringen Rentenanspruch hat, kann Grundsicherung im Alter beantragen. Ein kleine Rente oder Pension oder sonstige Einkommen werden bedarfsgeprüft vom Sozialamt auf das Grundsicherungsniveau aufgestockt (382 € plus Wohnkosten (Kosten der Unterkunft)= im Durchschnitt 688 €/Monat). 2003 erhielten 257.000, gegenwärtig erhalten rund 400.000 Menschen diese bedarfsgeprüfte Grundsicherungsleistung. Der Anteil der über 65-Jährigen liegt seit 2007 unverändert bei 2,4 Prozent. Frauen sind häufiger als Männer auf diese existenzsichernde Leistung angewiesen.

Zukünftig wird die Zahl der Grundsicherungsbezieher/innen ansteigen, weil sich der Niedriglohnsektor und die prekären Beschäftigungsverhältnisse stark ausgedehnt haben. Hinzu kommt, dass nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern viele Männer und Frauen lange arbeitslos waren oder noch sind. Eine belastbare Prognose, wie stark die Zahl der Anspruchsberechtigten ansteigen wird, ist nicht bekannt. Nach Einschätzung von Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes kann der Anteil in zehn Jahren auf 12 Prozent steigen.

Zunehmen wird die Zahl u.a. durch die gestiegene Anzahl von Soloselbständigen mit prekären Einkommensverhältnissen, die nicht in die Rentenversicherung einzahlen oder keine anderweitige Altersvorsorge aufgebaut haben. Unbekannt ist jedoch wie stark Lebenspartnerschaften in ihrem gemeinsamen Haushalt prekäre Einkommensverhältnisse im Alter kompensieren werden.

Die politischen Parteien werden mit gegensätzlichen Vorstellungen zur Armutsbekämpfung in den Bundestagswahlkampf ziehen. Lebensleistungsrente (CDU), „Mütterrente“ (CSU), Solidarrente (SPD), Garantierente (Grüne), sollen die politischen Unterschiede transportieren. Interessant ist, dass die Zahl 850 € im Monat in drei sehr verschiedenen Rentenreformkonzepten als existenzsicherndes Einkommensniveau definiert wird.

Der politische Weg zu einer finanzierbaren Lösung zur Bekämpfung von Altersarmut wurde seitens der Bundesregierung in die nächste Legislaturperiode vertagt. Deswegen arbeitet in der Heinrich-Böll-Stiftung eine Demografiekommission, die sich mit ihren politischen Handlungsempfehlungen in diesen Willensbildungsprozess einbringen will, der mit dem Bundestagswahltag am 22. September 2013 nicht abgeschlossen sein wird.

Die gesetzliche Rentenversicherung muss weiterhin das gesellschaftspolitische Vertrauen, die gesellschaftspolitische Solidarität genießen für den Schutz vor Altersarmut. Deswegen muss die Reform der Arbeitsmarktpolitik kontinuierliche Erwerbsverläufe wieder ermöglichen. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und nicht existenzsichernde Löhne müssen zurückgedrängt werden, damit ein existenzsicherndes Rentenniveau auch in Zukunft in der Regel von den Erwerbstätigen erreicht werden kann. Die Grundsicherung im Alter muss auf ein angemessenes Niveau für die Lebensleistung der Menschen angehoben werden.

Warum ist die demografische Entwicklung in der langfristigen Prognose ungewiss?

Laut Demografiebericht der Bundesregierung verringert sich die Bevölkerung bis 2060 von 81,7 Mio. auf 65 bis 70 Mio. Menschen (veröffentlicht im März 2011). Das wären rund 17 Mio. Einwohner weniger. Solch eine Langzeitprognose unterliegt zwangsläufig Ungewissheiten über die Entwicklung zukünftiger Nettozuwanderungssalden und zukünftiger Geburtenraten. Nur in kurzer bis mittlerer Perspektive sinken die Risiken, die mit solchen Bevölkerungsprognosen verbunden sind. Sie können sich stärker auf die bereits bekannte Geburtenentwicklung stützen.

„Die Unternehmen müssen sich bis 2030 darauf einstellen, mit 6,3 Mio. weniger Erwerbsfähigen im Alter von 20 bis 64 Jahren auszukommen, aber gleichzeitig so produktiv zu sein, dass die Gesellschaft einen Zuwachs von 5,5 Mio. über 64-Jährigen finanzieren kann.“ (Reiner Klingholz, BIB)

Der Entwicklung der Arbeitsproduktivität (Innovationskraft der Gesellschaft) kommt eine Schlüsselstellung für die  Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im Verhältnis zur übrigen Welt zu. Geringe oder keine realen Wachstumsraten würden erheblich die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme erschweren bzw. in ihrem Niveau in Frage stellen.

Aus dem Szenario zum Potentialwachstum der deutschen Wirtschaft bis 2020 durch die Deutsche Bundesbank ergeben sich drei Handlungsempfehlungen in Bezug auf den Arbeitsmarkt: „Mit Blick auf die inländischen Arbeitsmarktreserven wirkt zu einen stabilisierend, dass ältere Arbeitskräfte….länger als bisher berufstätig bleiben. Zum anderen könnte sich – auch begünstigt durch den weiteren Ausbau der Kinderbetreuungseinrichtungen – die Erwerbsbeteiligung von Personen mit familiären Verpflichtungen erhöhen. Hinzu kommt die Annahme, dass Deutschland in den nächsten Jahren einen jährlichen Wanderungsüberschuss von rund 200.000 Personen erzielt, die zum größten Teil dem Arbeitsmarkt unmittelbar zur Verfügung stehen werden.“

Das durchschnittliche Renteneintrittsalter ist seit Aufhebung von Frühverrentungsregelungen und der sukzessiven Einführung der Rente mit 67 spürbar angestiegen. Das durchschnittliche Renteneintrittsalter ist im vergangenen Jahr bei Männern von 63,5 Jahre auf 63,8 Jahre, bei Frauen von 62,9 Jahre auf 63,3 Jahre gestiegen. Für viele Menschen bewirkt der drohende Rentenabschlag von 0,3 Prozent pro Monat vor ihrer jeweiligen gesetzlichen Altersgrenze, dass sie eine verlängerte Erwerbstätigkeit realisieren bzw. anstreben.

Die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre reduziert die durchschnittliche Dauer des Rentenbezugs nur für kurze Zeit. Mittelfristig wird die steigende Lebenserwartung die Effekte der angehobenen Regelaltersgrenze sogar überlagern. Das hat das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) errechnet.

Demnach dürfen männliche Arbeitnehmer des Geburtsjahrgangs 1946, die im Jahr 2011 im Alter von 65 Jahren in den Ruhestand gegangen sind, mit einer Rentenbezugsdauer von 18,8 Jahren rechnen. Bei Frauen sind es aufgrund der höheren Lebenserwartung sogar 22,2 Jahre. Für alle nachfolgenden Geburtsjahrgänge wird die Regelaltersgrenze jährlich um einen Monat angehoben. Da die Lebenserwartung etwa in gleichem Maße ansteigt, wirkt sich das kaum auf die Rentenbezugsdauer aus. Das ändert sich erst für die zwischen 1958 und 1964 Geborenen, denn für sie wird die Regelaltersgrenze schrittweise um jährlich zwei Monate erhöht – das verkürzt die Bezugsdauer ihrer Altersrente leicht auf 18,5 bzw. 21,9 Jahre. Aber schon die nachfolgenden Jahrgänge können wieder mit einer längeren Bezugsdauer rechnen.

Die aktuelle Anhebung der Regelaltersgrenze um zwei Jahre entspricht in etwa dem Zugewinn an weiteren Lebensjahren in dieser Zeit“, so Dr. Stephan Kühntopf vom BiB. Wegen der gestiegenen Lebenserwartung hat keine Generation zuvor so lange Renten bezogen wie die jetzige. So erhielten Arbeitnehmer des Geburtsjahrgangs 1910, die mit 65 Jahren in den Ruhestand gegangen sind, rechnerisch eine Altersrente über die Dauer von 13,6 (Männer) bzw. 17,8 Jahren (Frauen) – und damit bis zu fünf Jahre kürzer als heutige Rentner.

In dem oben zitierten Szenario der Deutschen Bundesbank wird damit ausdrücklich auf die „stille Reserve“ des Arbeitsmarktes, auf das bisher nicht genutzte Erwerbspersonenpotential von Frauen Bezug genommen. Viele Frauen sind heute gut ausgebildet und ihre Qualifikationen werden nachgefragt. Die Frage ist, welche Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, dass Frauen Mini- und Teilzeitjobs aufstocken bzw. Erwerbsarbeit aufnehmen können bzw. wollen?

Im Jahr 2011 wurde erstmals seit 9 Jahren ein geringer Bevölkerungszuwachs durch Zuwanderung trotz weiter abnehmender Geburtenrate (1,36) verzeichnet. 2012 hat sich dieses Ereignis wiederholt, der Nettozuwanderungssaldo lag ebenfalls bei rund 300000 Personen/Jahr. Eine wesentliche Frage ist, ob diese zweijährige Entwicklung einer Nettozuwanderung oberhalb von 200000 Personen (vgl. Szenario des Statistischen Bundesamtes) sich als Trend fortsetzen wird oder nicht. Die letzten beiden Jahre sind nur ein Beleg dafür, dass die Zukunft offen ist.

Der aktuelle Bevölkerungszuwachs in so gut wie allen Großstädten der Bundesrepublik Deutschland, die Suche nach Wohnungen und steigende Mieten sind aktueller Ausdruck dieser Entwicklung. Schrumpfende Dörfer und Kleinstädte in verschiedenen Regionen Deutschlands sind die Kehrseite dieser neuen Entwicklung. Akuter Fachkräftemangel z.B. in Gesundheits- und Erzieherberufen und sich abzeichnender Fachkräftemangel in vielen Branchen in den nächsten Jahren erfordern eine aktive Werbung um Zuwanderung und eine politische Willkommenskultur.